von Karin Tamcke
Alles spann sich im Dunkeln ab.
Heimtückisch.
Grausam.
Gnadenlos.
Schon lange hatten die Täter ihr Opfer im Visier gehabt.
Sie kamen unbemerkt, eine Spezialität von ihnen.
Ließen sich heimlich einschmuggeln.
Versteckt in albernen kleinen Eiern.
Warteten auf den günstigen Zeitpunkt, krochen dann hervor.
Nun war er vorgezeichnet, der mitleidlose Weg. Sie kannten nur das eine Ziel: Vernichtung! Bereits im jüngsten Alter formte sich ihr Täterwesen, bekam die unbarmherzige Härte, diese Skrupellosigkeit. Sie ließen dem Opfer keine Chance. Es war nicht beweglich genug, um ihnen zu entkommen, sie waren ganz klar im Vorteil, obwohl auch sie nicht die Schnellsten sind. Und so machte sich die Bande mit Wonne über den Armen her. Er allein gegen eine ganze Hundertschaft, wie hätte er sich wehren können? Seine Chancen waren gleich null. Die Angriffe erfolgten schleichend, unter dem Deckmäntelchen der Unschuld, waren anfangs nur leicht zu spüren, dann intensivierten sich die Attacken, wurden am Ende exzessiv.
Bis zu seinem endgültigen Tod.
In diesem Zustand fand ich ihn.
In meinem Kleiderschrank.
Dahingeschieden.
Durchlöchert wie ein Sieb.
Dieses grauenvolle Schicksal, war es meine eigene Schuld? Hatte es eine Warnung gegeben? Hätte ich mich kümmern müssen, ihm zu Hilfe eilen, ihn schützen vor dieser gnadenlosen, kriminellen Gang? Ich hatte sie einfach nicht wahrgenommen, die lautlosen Schreie um Beistand. Hatte nicht hingeschaut, wie das oft so ist. Die ersten kleinen Verletzungen, sie wären heilbar gewesen, hätte ich rechtzeitig eingegriffen. Hätte, hätte, hätte...!
Doch nun war alles zu spät.
Ich trauerte tief um ihn. Um meinen Lieblingspullover. Nichts war mehr zu retten, er bestand nur noch aus Löchern. Mein bester Wollpullover! Ein teures Markenprodukt, sie wussten genau, was gut ist. Wer hatte ihn auf dem Gewissen? Wo steckten die kaltblütigen Mörder? Hinterließen sie aussagekräftige Spuren? Dann sah ich ein kleines lichtscheues Etwas. Es verhielt sich höchst verdächtig, versuchte zu fliehen, sich zu verstecken. Ich ging zur Verfolgung über, stöberte es auf, ergriff es mit großer Vorsicht. Eine Motte! Sie sah so zierlich aus, so feingliedrig und zart. Silberner Körper, silbrige Flügel, brav auf dem Rücken gefaltet. Bei Berührung schien sie in feinen Silberstaub zu zerfallen. Und in diesem ätherischen Gebilde sollte sich mein Pullover befinden? Es war kaum zu glauben, dass in diesem fragilen Wesen so ein Vernichtungswille steckte.
Die Motte beteuerte ihre Unschuld. Kein Wunder, sie fraß nichts mehr, war ja nun auch satt und die Zeit als Pullover-Killer hatte sie hinter sich, das Madenstadium abgeschlossen. Doch sollte man nicht meinen, dass sie sich nun abkehren würde von jeglichem schändlichen Treiben. Was hatte sie wohl in meinem Schrank zwischen den Pullovern zu suchen? Genau! Sie war mit Sicherheit dabei, neue kleine Fressmaschinen in die Welt zu setzen. Eine weitere Hundertschaft von Eiern, aus denen dann Maden krochen, die sich die Wollteile einverleibten. Was ich mit meinen Interessen nicht in Einklang bringen mochte.
Auch war diese Motte, wie man sich denken kann, bestimmt kein Einzelkind, es war davon auszugehen, dass auch ihre Geschwister noch in den Tiefen des Schrankes hausten, bereit für das Werk der Vermehrung, was die zu erwartende Anzahl an hungrigen Mottenmaden in unvorstellbare Höhen trieb.
Was macht man gegen Motten? Was konnte ich tun, um meine restliche Garderobe vor ihnen sicher zu schützen? Sie würden nicht mit sich spaßen lassen. Das musste bereits im Altertum ein assyrischer Kaufmann erfahren. Als er nach einer Gefängnisstrafe wieder entlassen wurde, tat er den entsetzten Ausruf, den man gemeinhin Frauen zuschreibt: Ich habe nichts anzuziehen! Die Motten hatten inzwischen seine 200 Gewänder aufgefressen. Daher sollte ich die Sache nicht auf die leichte Schulter nehmen. Ich träumte von einer Zukunft im mottenfreien Haus und mir fiel ein: Lavendel! Ich liebe dieses Kraut. Aber nicht die Motten. Angeblich soll er sie vertreiben, der würzige Duft der blauen Blüten trifft nicht ihren Geschmack. Ich mähte mein Gartenbeet kahl (Sorry, lieber Lavendel!), füllte alles in Tütchen und verteilte sie im Schrank. Ich höre schon die Motten niesen. Das habt ihr nun davon! Jetzt bin ich die Mitleidlose.
Der kleine Löwe
von Sigrid Lüders
In einem Zoo wurde ein Löwe geboren.
Er war erst einige Wochen alt, als er ins Freighege durfte.
Die Zoobesucher liebten diesen kleinen Löwenzwerg und erfreuten sich an ihm.
Er erkundete sein Gehege und roch an allem, was er erspürte.
Sein Tierpfleger merkte sehr schnell, dass dieser kleine Löwe etwas besonderes war
Da der Kleine Löwe sehr neugierig war, wollte er deshalb für ihn einen besonderen Namen aussuchen.
Und weil er überall sein kleines Löwennäschen reinsteckte, nannte er ihn liebevoll Schnüffelnäschen.
Als der Tierpfleger eines morgens das Gehege aufsuchte, war der kleine Löwe nicht auffindbar.
Zum Glück war er als einziger verschwunden.
Sie fanden die Stelle, durch die er sich weggeschlichen hatte, und machten diese sofort dicht.
Niemand fand ihn im Zoo, und niemand wusste wo er war, oder wie er das Gelände verlassen konnte.
Und Schnüffelnäschen war wirklich aus dem Zoo verschwunden.
Dicht neben dem Zoo gab es eine große Wiese.
Als Schnüffelnäschen aufwachte, lag er auf dieser grossen grünen Wiese voller gelber Blumen.
Er merkte,dass er nicht im Gehege war.
Aber in diesem Moment war er nicht einmal traurig.
Nein, im Gegenteil.
Er freute sich, dass er eine andere Gegend kennenlernen konnte.
Er lief durch das gelbe Blumenmeer und roch an den gelben Blumen.
Plötzlich blieb er stehen.
Vor ihm stand ein anderer kleine Löwe.
Er hatte ihn nicht bemerkt.
Schnüffelnäschen setzte sich hin und betrachtete ihn ganz genau.
Er stellte fest, das der andere Löwe kleiner war, und auch anders aussah.
Und vor allem seine Ohren, die waren ja viel länger als seine, und er hatte auch andere Zähne.
Ganz überrascht war er, als er sah, wie er die grünen Blätter der gelben Blumen frass.
Irritiert stellte er zudem fest, dass er sich auch ganz anders bewegte.
Der kleine Löwe tat ihm leid.
Schnüffelnäschen wollte unbedingt wissen, was mit ihm los war und sprang ihm entgegen.
"Bist du auch aus dem Zoo weggelaufen?", wollte er wissen.
"Warum soll ich aus einem Zoo weggelaufen sein, es ist doch hier viel schöner. Nein, ich lebe hier", antwortete er Schnüffelnäschen.
"Und warum frisst du die grünen Blätter von den Blumen?"
Der andere Löwe sah ihn von oben bis unten an.
"Na, weil ich ein Hase bin, und ich Löwenzähne mag.
"Dann bist du gar kein Löwe?", stellte er überrascht fest.
"Nein, wie kommst du darauf?", fragte der Hase.
"Ich weiss nicht, ich dachte es.."
Schnüffelnäschen überlegte weiter.
"Und warum frisst du unsere Löwenzähne?" wollte Schnüffelnäschen traurig wissen, und fasste mit seiner kleinen Tatze an seine Zähne.
Sie waren noch alle da.
Das verwunderte das Häschen sehr .
"Warum sollte ich deine Löwenzähne fressen, die schmecken mir bestimmt nicht", erwiderte der Hase.
"Dann willst du meine Zähne gar nicht ?", kam die erleichterte Frage von Schnüffelnäschen.
"Nein natürlich nicht, ich fressen den Löwenzahn von der Wiese", erwiderte der Hase immer noch ganz überrascht über so eine Frage, und hoppelte davon.
Schnüffelnäschen sah ihm nach, bis er nicht mehr zu sehen war.
Indessen kamen Leute, um ihn einzufangen.
Er ließ sich in das Zoogehege bringen, und war froh, wieder bei seiner Löwenmutter zu sein.
Er erzählte von seinem Ausflug.
Wenn er den kleinen Hasen nicht getroffen hätte, hätte er nie erfahren, das seine Zähne nach dem Löwenzahn auf der großen gelben Wiese benannt waren.
von Karin Tamcke
Der Kater sitzt in seinem Karton und starrt entrückt zur Zimmerdecke. Schon eine ganze Weile. Was sieht er da, was ich nicht sehe? Dann löst sich sein Blick vom fixierten Punkt, schweift angeregt durch den Raum. Und nun verstehe ich. Ich sehe sie noch nicht, aber ich höre sie. Die Mücke. Unverwechselbar ist der gemeine Sirenenton. Es gab in meinem Leben schon viele Berührungspunkte mit dieser sirrenden Spezies. Ich kenne sie daher sehr genau. Uns verbindet eine Liebe, die restlos einseitig ist.
Die innige Verbundenheit begann bereits in meiner Jugend. Jede Mücke in der Umgebung schaltete auf Autopilot mit der festen Zieleingabe: mein unschuldiger Kinderkörper. Mein Umfeld hatte die Garantie für umfassende Sicherheit, wenn ich in der Nähe war. Die Blutsauger stürzten sich nur auf mich, als wär ich der einzige Mensch auf der Welt. Haben Mücken kein Gewissen? Mit Grausen denke ich an die Nächte, wenn im Schutze der Dunkelheit das tückische Insekt seine Flugbahnen um mich zog. Unsichtbar, doch nicht zu überhören. Und ich wusste es genau, die Mücke würde mich erwischen. Man kann nicht die ganze Nacht unter dem Deckbett verbringen. Am nächsten Morgen war ich übersät mit den juckenden Stichen. Ich entwickelte eine Phobie gegen diese Plagegeister, begann den Schlaf zu verweigern, bis eine mitfühlende Seele die Mücke aus dem Raum vertrieb.
Ich wuchs heran, die Zeit verging, doch die Mücken blieben. Ich heiratete und mein Mann hatte Glück. Er bekam durch diese Ehe den besten Mückenschutz. Sie flogen zu mir und verschonten ihn. Doch dann geschah das Wundersame. Unser Kind war unterwegs – und plötzlich drehten die Mücken ab. Ich war nicht mehr attraktiv für sie. Die speziellen Hormone brachten die Mücken aus dem Takt. Mit gerümpftem Rüssel schwenkten sie rüber zur nächstbesten Quelle und mein Mann bekam einen Einblick in mein jahrelanges Martyrium. Während er fluchend um sich schlug, sonnte ich mich endlich in Mückenabstinenz. Müßig anzuführen, dass nach der Geburt meines Sohnes die Mücken die Flugrichtung änderten und ihre Zuneigung zu mir wie selbstverständlich erneuerten.
Lesung von Karin Tamcke im Dezember 2016
Die Situation eskalierte, als wir im Urlaub nach Finnland fuhren. Ein Land der Wälder, Seen und Mücken. In Scharen fielen sie über mich her gleich einer dunklen, summenden Wolke. Da half nur eine Ganzkörper-Kluft aus dicht gewebten Stoffen, obwohl es Sommer war. Ich konnte sie beobachten bei ihrem eifrigen Bemühen, den Rüssel durchs Textil zu stechen. Sie bohrten und gruben und mühten sich ab, doch dem festen Stoff waren sie nicht gewachsen. Wenn sie sich allzu mausig machten, scheuchten meine behandschuhten Händen sie ohne Mitleid fort. Doch wehe, ich stieg in die glasklaren Seen zu einem erfrischenden Bad. Diese Gunst der Stunde nutzten die Mücken mit Vehemenz und hinterließen ihre Visitenkarte. Ich sah nach ihrem Ansturm aus, als hätte ich die Masern. Somit war Finnland als Urlaubsziel für alle Zeiten gestrichen. Da mutete unsere Idee, einen Teich im Garten anzulegen, fast wie Selbstzerstörung an. Die ersten Lebewesen, die ihn sofort bevölkerten, waren Mückenlarven. Nun hatten wir vor der Haustür unsere eigene Mückenzucht, die höchst erfolgreich lief. Die Larven zuckten froh durchs Wasser und erfreuten sich bester Gesundheit. Sie taten bald, was sie tun mussten. Von der Wasseroberfläche stiegen Mückenschwärme auf und machten jeden Sommerabend zu einem denkwürdigen Erlebnis, auf das ich gerne verzichtet hätte.
Und nun also auch im Winter! Frech schwirrt sie durch mein Haus. Bekannt ist, dass nur die Weibchen den Winter überleben. Bekannt ist aber auch, dass sie es sind, die stechen...
Der Kater guckt ihr hinterher. Normalerweise ist sein Interesse größeren Tieren vorbehalten. Doch er hat wenig zu tun, es ist kalt, er langweilt sich. Die Mücke füllt nur eine Lücke. Er betrachtet sie ganz unaufgeregt. Kein Wunder, ich habe auf seinem Körper noch nie einen Mückenstich gesehen. Das Opfer werde ich wieder sein. Ich brauche keine Kristallkugel, um sicher vorherzusagen, dass sie früher oder später mein Blut abzapfen wird. In mir wächst der Wunsch nach einem Kammerjäger. So verführerisch der Gedanke auch ist, ich verwerfe ihn schnell wieder. Ich will trotz allem aus einer Mücke keinen Elefanten machen.